Blasendämmerung
Ich bin ein ängstlicher Mensch.
Am wohlsten fühle ich mich in gewohnten Umgebungen; räumlich, aber auch personell.
Dann kann ich meine Unsicherheiten recht aufwandsarm bearbeiten, dann weiß ich, was zu tun ist, damit diese mich nicht lähmen oder beeinträchtigen.
Wenn allerding nix da ist, was in dieses Vertrtaute einfließt, wird es auch irgendwie schal. Erwartbares tritt ein. Immer dasselbe tun, denken und fühlen.
Selbst in den unendlichen Weiten der digitalen Vernetzung bleibt das so.
Es wird durch die gängigen Methoden der Datenverarbeitung sogar noch unterstützt.
Wenn ich im Netz z.B. nach einer freistehenden Hängematte suche, tauchen nicht nur Angebote dazu auch auf anderen Seiten auf, die nichts mit meiner Suche zu tun haben – es gibt den Rechnenden auch weitgehende Informationen zu meiner Person. Diese bleiben zwar Vermutungen (da ist ein Garten oder eine Terasse oder ein großer Balkon und Zeit zum Müßiggang, sowie Geld für unnütze Dinge vorhanden usw.),
in der Fülle meiner Bewegungen im Netz ergibt sich daraus aber ein immer vollständiger werdendes Bild meiner (vermuteten) Person.
Hier wird dann oft der Begriff der "Blase" verwandt, in der man sich bewegt und die meine Gedanken, mein Bewegungsprofil, mein Konsumverhalten, meine Kontakte ebenso immer genauer zu beschreiben weiß.
Hat jemand schon einmal eine getrocknete Schweinsblase in der Hand gehabt ?, den Luftballon des vorplastischen Zeitalters ?
Prall, voller Resonanz (also ganz schön laut beim Schlagen auf harten Grund) und fest, hermetisch abgeschlossen – was drin ist, kommt nicht raus (es sei denn, die Blase platzt).
Ich habe, warum auch immer, mir schon früh intuitiv angewöhnt, meine Blase zu verlassen, bzw. mich hinzustellen wie ich bin und in andere Blasen hineinzugucken.
Ein Beispiel – bis zu vierten Klasse war meine Schule eine geteilte – hier evangelisch, da katholisch. Im Gebäude trennte die zentrale Turnhalle, auf dem Schulhof ein Strich, der nicht überschritten werden durfte.
Als nun in der vierten Klasse die Schule zu einer räumlich und personell ökumenischen Anstalt wurde, wir also alle mit den jeweils anderen Kirchenangehörigen verkehren durften, wurde mir die anderskonfessionelle Annette zu meiner ersten Freundin.
Ich besuchte sie gar, obwohl sie in einem anderen Stadtteil wohnte und besuchte mit ihr auch den rituell völlig andersartigen Gottesdienst in der bis dato "verbotenen" Kirche.
Da die Verpöhntheit des Kontaktes mit dem bislang Fremden mit der Zusammenlegungsmaßnahme noch längst nicht abgebaut war, machte mich dies ein wenig einsamer, aber eben auch ein wenig voller.
Geblieben ist davon die Lust auf meine Neugier – Einerseits macht mir das Angst, weil ich ja meine gewohnte Umgebung dafür zeitweise verlassen muss und ich nicht weiß, wie sie auf mein Verändertsein reagieren wird, wenn ich zurückkomme. Auf der anderen Seite wird meine Autonomie dadurch bestätigt, meine Beweglichkeit erhöht, meine Schweinsblase größer.
Ich bin weit davon entfernt freien Zugang zu meinen Gefühlen zu haben, weit davon, in meinen Entscheidungen auf solider Grundlage, frei, frohgemut und entspannt zu sein.
Aber die Erfahrungen meiner Ausflüge haben mir meine Naivität und Unbekümmertheit bewahrt und so begegne ich den Fremdblasenbewohnerinnen kaum anders als denen mir vertrauten. D.h., meine Vorbehalte sind so niederschwellig in mir verankert, dass auch ich offen empfangen werden kann, weil ich meine Blasenzugehörigkeit nicht zwangsläufig vor mir hertragen muss.
Was für ein Glück.
Ich war in der Finsternis
Ich konnte meine Worte nicht sehen
nicht die Wünsche meines Herzens.
Dann war da plötzlich ein starkes Licht.....
"Lass mich zurück in die Finsternis"
Stephen Crane