Retrospecovid

Weiß das Blatt....

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Eigentlich ist ja schon alles vorbei, aber wissen wir noch wie es war, als es war, wie es vielleicht wieder kommt ?

Weiß das Blatt, wie schön es ist !+? (R.Walser) oder Was zu tun ist ~ möglich !+?

Wieder einer von den Tagen. Wieder wird keine Menschenseele in meiner Nachbarschaft sehen, was ich tue, wovon ich lebe.

Nachdem ich den Text der drei Stücke, die ich gerade spiele, gelesen und memoriert, nachdem ich meine Übungen gemacht habe, nachdem die 3 Stunden in den Vormittag gesickert sind, gehe ich raus, spazieren.

Ich lasse den Wind meinen Kopf freipusten, gebe mich der Feuchtigkeit des Nieselregens hin. Ich grüße, wen ich treffe, male mir aus, wie sie meine Ziellosigkeit als Müßiggang erleben, lasse sie nicht wissen, daß ich mich weiter vorbereite, daß ich nur darauf warte, endlich wieder beginnen und mich einzulassen zu können.

Die Gedanken fliegen in verschiedene Richtungen, machen Halt an kleinen Momenten der Vorstellung oder an Worten darin. Sie begegnen anderen Momenten, anderen gelesenen oder erlebten Zusammenhängen und schwirren dann zurück zum Stück von heute abend. Zwei Stunden später packe ich meine Sachen. Hose, Hemd, Strümpfe und Handschuhe habe ich gestern noch gewaschen und über Nacht auf der Heizung getrocknet. Die Schuhe, das Jacket, der Hut sind am Platz geblieben.

Als ich das Haus verlasse kommen die ersten in meiner Strasse von ihrer Arbeit zurück. Vielleicht denken sie, ich sei so wohlhabend, daß ich mir so einen Lebenswandel leisten könne, oder sie vermuten eine Krankheit, die mich auch finanziell am Leben hält. Wahrscheinlich aber tippen sie auf lauter unlautere Unterstützung der Gesellschaft, die mich in diese Lage versetzt. Dabei reicht, was ich verdiene, gerade mal für Miete, Krankenkasse und Essen.

Wenn ich es erklären wollte, würde mir Gehör geschenkt? Ich glaube, es ist aus der Sicht eines "normalen" Tagesablaufs nur schwer zu verstehen, welche Anstrengung, welche Ernsthaftigkeit dafür nötig ist, glaubwürdig so zu tun als wär man ein anderer, nicht man selbst und wenn es nur für ein, zwei Stunden ist.

Im Theater angekommen, wird zuerst die Bühne vorbereitet, die Situation auf Anfang gestellt, die Requisiten verteilt, die Kostüme für die Umzüge zurechtgelegt. Die KollegInnen werden begrüßt, die Stimmung sondiert, Situationen der letzten Vorstellungen besprochen verändert, kurz gestellt.

Die Technik wird nochmal gecheckt und letzte Absprachen mit ihr getroffen. Dann beginnt das Warten, das keines ist. Eine Stunde vor der Vorstellung ist alles bereit. Draußen trudeln die ersten Zuschauer ein, plaudern an der Bar oder mit dem Service. Wir sitzen in der Garderobe und suchen nach einer gelungenen Überbrückung der Zeit, einige zusammen, andere für sich. Wenn die Inspezienz das Startzeichen gibt, begeben sich alle auf ihre Positionen, nichts geht mehr. Trotzdem werde ich heute, wie immer in diesem Stück, die erste Viertelstunde hinten warten müssen, bis ich dran bin.

Das ist einer der schwersten Momente der Arbeit. Denn erst wenn ich die Bühne betrete, habe ich die Chance, mein Einlassen mit der lustvoll, mühsam erprobten Figur und den Figuren der KollegInnen zur Wirklichkeit werden zu lassen. Gemeinsam mit dem Publikum und seinen Reaktionen gestalten wir den Abend zu dem, was wir uns mit Hilfe von AutorIn, RegisseurIn, Kostüm- und BühnenbilderIn in wochenlanger Arbeit überlegt, miteinander diskutiert und ausprobiert haben.

Im schlechtesten Falle erreichen wir genau das und bringen auf den Punkt, was da intendiert wurde. Im besten Fall gelingt es im Spiel, etwas neues, darüber hinausgehendes, einmaliges herzustellen und darin aufzugehen. Dann wird die Erschöpfung am Ende des Spiels von Freude, Genugtuung, Stolz und Miteinander getragen sein. Dann trifft der Aplaus da wo er treffen soll, in die Seelen aller an diesem Abend Beteilgten, inl. Publikum.

Doch heute ist alles anders. Ich habe den ersten Teil des Tages wie gewohnt hinter mich gebracht. Aber jetzt sitze ich, wie jeden Abend (mit kurzen Unterbrechungen) seit fast einem Jahr zu Hause, frage mich in Gedanken, wo ich denn vor drei Monaten, nach der letzten Vorstellung, meine Kostüme deponiert habe und ob ich sie denn wiederfinde und nochmal waschen muß, wenn es wieder losgehen sollte und vor allem, wann das wohl der Fall sein wird.

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